Vorübergehend geschlossen
Barreport Berlin
Was 2016 für die Musikindustrie gewesen sein mag, ist 2020 für die Gastronomie – unter sehr vielen anderen Berufsgruppen. Verschiedene Perspektiven einer Momentaufnahme, die sich bereits in ihrer Entstehung als historisch erweist.
Dieser Artikel erschien zuerst in: DRINKS D-A-CH ONLINE
VON JULIANE EVA REICHERT
So viel die sozialen Medien auch über uns wissen mögen – im Grunde nämlich alles – so haben sie doch keine Ahnung von den den aktuellen Gegebenheiten. „Jetzt geöffnet” steht da auf Facebooks digitalem Aushängeschild, wohingegen das Unterhaltungs-Fensterchen just in diesem Moment aufploppt und Thomas Pflanz, Inhaber eben jener Hildegard Bar, sich mit folgenden Worten meldet: „Hi Juliane, leider habe ich noch immer geschlossen. Ich war gerade in der Victoria Bar, und es war so frustig. Gern würde ich mich Donnerstag mit dir in der Hildegard Bar treffen. Sag, wann du kannst, und ich bin da. Vermisse meine Bar so sehr, und das wäre ein schöner Anlass, einmal mal wieder am Tresen zu sitzen.”
Tresen, wissen Sie noch? Dunkles Holz, das seidig glatt lackiert unter den Fingern entlang gleitet, während man beispielsweise gerade auf seinen Coffee Old Fashioned wartet und sich in die sanften Arme der sich schon leicht wiegenden Palmwedel auf der Tapete begibt.
Geschlossen und ein bisschen geöffnet
In diesem Moment allerdings schaue ich über die Balkonbrüstung auf einen bestuhlten Gehweg, auf die Jungs, die an einem einzelnen, vom benachbarten Tisch etwa vier Meter entfernten Holztisch sitzen, die Beine übereinander geschlagen, Ellbogen auf den Schenkeln, und rauchend auf die Straße gucken. Die Kreuzköllner Nachbarn, das sind Timo Häberle und Lutz Rau. Ersterer ist Geschäftsführer des „Rau und Herzlich”, zweiter ist Mitteilhaber dort, selbige Position hat er in der Goldfischbar, und er ist Geschäftsführer in der Booze Bar. Man kann also guten Gewissens behaupten, dass auch Rau weiß, wo der durstige Hase läuft. Beziehungsweise, wo er laufen darf und wo nicht, denn das hat er jüngst in einem öffentlichen Video veranschaulicht, wie er durch Friedrichshain geht, vorbei an seiner geschlossenen Booze Bar, dem mit einer voll besetzten Biergarnitur verzierten Spätkauf, der prall befüllten asiatischen Speisegastronomie, deren Besucher hauptsächlich Biere und Aperol Spritz auf dem Tisch stehen haben und an diversen Parks – deren trinkende Bevölkerung von einer Pandemie nichts gehört zu haben scheint. Die Booze Bar hat also ein Take Away-Fenster, die Goldfisch Bar verkauft zum Vatertag ein 5-Gäng- Menü aus vier Bieren und einer Currywurst Pommes, und allein das Rau & Herzlich, zuvor schon eine Speisegastronomie, darf offiziell öffnen.
Mit den Worten „Liebe Politik, das ist total bescheuert, was ihr da macht. Es ist sinnlos, von der Ungerechtigkeit dabei will ich erst gar nicht reden; eine Frechheit ist das“, endet der Clip, und auf der gegenüberliegenden Straßenseite drückt Häberle die Zigarette aus. Allmählich geht es nämlich ans Vorbereiten: Eine befreundete Bar aus dem Kiez hat Gastschicht. Rau und Häberle versuchen, aus der Ungerechtigkeit eine Tugend zu machen und laden die ein, denen das Gastgebertum derzeit selbst verwehrt wird. „Daydrinking is not a crime” steht da auf einer Tafel, es ist 16 Uhr, und eine Dame schlürft bereits an ihrem Tumbler.
Der Abend verläuft schmerzhaft distanziert, denn alle haben wir uns lange nicht gesehen, wollen uns irgendwie in den Arm nehmen, lassen es aber. Es ist nicht ganz der erste Drink seit präcoronialer Zeiten, dafür hat der Liefertender der Lieblingsbar gesorgt, aber es ist der erste in einer Bar. Naja, also zumindest davor. Das Gläserklingen nebst Feuerzeugsound und Tischgemurmel gleicht einer längst vergessenen Sinfonie, und als der Bartender fragt, ob’s noch etwas sein darf, bin ich beinah beleidigt. Ist denn wirklich alles vergessen worden? Ist es nicht: Der Port für den Smoky Port Bastard steht bereit, und er schmeckt köstlicher denn je. Rau war vor kurzem übrigens in der Berliner Zeitung. Er hatte sich nach einem Brand eine „Multi-Risk”-Versicherung für und gegen nahezu alles zugelegt – unter anderem für den Fall von Infektionskrankheiten. Weil es im 2016 verfassten Kleingedruckten von rund 40 jener Krankheiten aber noch kein Covid-19 gab, war das auch nicht mit aufgeführt – schade: kein Geld. Moment, beinahe kein Geld! Inzwischen hat die Versicherung nämlich 3.000 Euro bezahlt – aus Anteilnahme..
Definiere „vorübergehend”
Inzwischen ist es soweit, und Thomas Pflanz hält die Tür zur Hildegard auf. Ob wir wohl bitte einen Gin & Tonic trinken können, möchte er strahlend wissen; es hat ihm gefehlt. Dabei geht es nicht darum, dass man sich dieses Getränk nicht auch einmal zu Hause hätte einverleiben können, immerhin das haben wir inzwischen gelernt. Doch Pflanz’ Glaube an einen digitalen Ersatz für die Bar, sei er auch an einem noch so schönen Ort wie dem heimatlichen Sofa erfahrbar, ist, gelinde gesagt, limitiert. Das wird schon allein daran deutlich, dass er über Barhocker philosophiert: „Oft sind Barhocker so gebaut, dass ein Kontakt mit dem benachbarten Gast durch die allseitliche Abschirmung gar nicht möglich ist – aber geht es nicht um genau darum in der Bar? Das Beisammensein?” Wir kommen schnell darauf, dass es der Kontakt zum Gast und der zwischen den Gästen ist, der der Szene in den nächsten Monaten die Hölle heiß machen wird. „Social Distancing ist das Gegenteil von dem, was wir hier betreiben wollen: Da geht es zwar um tolle Drinks, aber doch noch viel mehr um Kommunikation und das ganze Miteinander”, so Thomas, der ja nun mindestens ein ganzes Leben lang gesehen hat, was es bedeutet, in der Gastronomie zu Hause zu sein. Nicht nur jetzt, sondern auf absehbare Zeit wird es dieses Zuhause nicht mehr geben. Wenn er sich es leisten könnte, ließe er die Hildegard geschlossen. Auch aus finanziellen Gründen, vor allem aber aus Herzensgründen: „Ich war immer ein Gastgeber und Barmensch, und das werde ich auch bleiben.” Jetzt bloß eben ein trauriger. Was macht so ein Thomas Pflanz denn den ganzen Tag, wenn er aus seiner Destination gerissen wird? Der hat zum nun ersten Mal „Germany’s Next Topmodel gesehen“ – Spoiler: es war schlimm – er hat sich um die Wohnung seiner Eltern gekümmert, alte Sammler von Bar-Interieur, hat etliche Premixes weggekippt und mit seiner Crew Basketball gespielt. Dass der Zusammenhalt hier weiterhin besteht, ist ihm das wichtigste. Finanziell überlebt hat er vor allem mit Hilfe seiner Stammgäste, die ihm hier einen Gutschein für künftige Drinks abgekauft, dort einfach ein paar Scheine dagelassen hatten: für jene Drinks, die sie in Bälde wieder in der Hildegard getrunken haben werden.
Ob in den eigenen Reihen an Umschulung gedacht wird? „Nein, sagen sie selbst – habe neulich gefragt. Da hieß es, ich kann nichts anderes und ich will auch nichts anderes.” Da sitzt also Thomas Pflanz: mit 14 Jahren zum ersten Mal besoffen von einem Baba au Rum, mit 16 auf Tour im Maison de France mit den Buddies von den französischen Alliierten, nach einem Abstecher ins Jura-Studium rein ins Berliner und New Yorker, dann aber zum Glück wieder ins Berliner Nachtleben. Für quasi immer, bloß eben mit Pandemie-Unterbrechungen. Rückblickend auf die Geschichten dieser Person wirkt eine Pandemie allerdings beruhigend vorübergehend.
Einer neuen Bescheidenheit weichen
Und das beweist die Woche darauf. Am 2. Juni dürfen in den meisten Bundesländern auch die Gastronomien öffnen, die keine Speisewirtschaft sind, sondern reine Schankstätte. Genau diese Unterscheidung hatte so manchem Barbesitzer in den letzten Wochen zur Verzweiflung gebracht. Nicht selten waren in den Medien Bars, Clubs, Kneipen und Bordelle in einem Satz genannt worden, immer wieder fiel „Ischgl”, und jeder Mensch, der schon einmal eine Bar besucht hat, muss diese Ungerechtigkeit, ja die Unverhältnismäßigkeit dieser Nennungen nicht mehr kommentieren. Zumal Speisegaststätten schon deutlich früher öffnen durften, ob der Gast nun gegessen oder ausschließlich getrunken hat. Nicht umsonst ließ man sich hie und dort zu dem verzweifelten Späßchen hinreißen, Nüsse und Popcorn für den Preis eines Getränks zu verkaufen, dieses dann aber umsonst mit zu servieren. Die seit nun 20 Jahren beständige Victoria Bar hatte zumindest diesbezüglich keine Probleme. Sie durfte bereits mit dem ersten Schwung öffnen und ist auch am Tage der offiziellen Öffnung am Tresen – bloß eben mit einer um ein Drittel verringerten Kundschaft. „Hier geht es schon lange nicht mehr um’s Geld verdienen, sondern darum, Verluste zu reduzieren und die gute Laune nicht komplett zu verlieren”, so Stefan Weber, Geschäftsführer der Bar. Er mutmaßt, dass es bis zur Entwicklung eines geeigneten Impfstoffs eine Hemmung der Gäste geben wird, die langfristig zu einer Rezension führen wird. „Die goldenen Zeiten der Bar sind vorbei, auf beiden Seiten, da muss wohl einer neuen Bescheidenheit gewichen werden.” Allzusehr zu stören scheint ihn das nicht, denn „diese ganzen Cocktailspielereien, dass alles immer verrückter werden muss, Gadges und Chichi hervorgezaubert werden, wird vermutlich unwichtig. In den letzten zehn Jahren ist das so dekadent zugespitzt worden, das musste sowieso zu einem Ende kommen.” Eine besonnene Nüchternheit, wie sie derzeit nicht allzu populär zu sein scheint, legt Stefan auch in puncto Politik an den Tag. Er fühlt sich als Gastronom prinzipiell nicht benachteiligt, sondern hat das Gefühl, „der Staat hält die Gießkanne überall gleichmäßig hin; zumindest versucht er’s.” Dass sich das immer mal wieder fehlerhaft oder absurd anfühlt, findet er normal: „Es ist halt ein volkswirtschaftliches und gesamtgesellschaftliches Problem”, so Weber. Ob wohl bitte jemand Weber in den nationalen Think Tank für stoisch, ja im ganz atarektischen Sinn verstandene Angelegenheiten berufen könnte? Danke.
Was der nun getrieben hat in einer Zeit, in der es, zumindest in herkömmlichen Kategorien, nichts zu tun gab? „Ich liebe ja Kunstgeschichte. Dann die SZ, FAZ, von vorn bis hinten.” Es war also nicht alles schlecht. Abgesehen davon, gab es Kulanz beim Vermieter, „keine Zitrusatmosphäre und außerdem werde auch mal mit dem Nachbartisch geschnackt.” Mit dem Pflanz müsse er nochmal reden, findet er – weil er negative Stimmung derzeit nicht angebracht findet. Allerdings dürfte der mittlerweile auch wieder froher sein.
Froh zu sein bedarf es wenig ...
À Propos Frohsinn: Die Berliner sind nicht gerade bekannt für ihn, und ein Gros davon – und natürlich den Zugezogenen – entblödet sich am Pfingstwochenende nicht, das abermals unter Beweis zu stellen. Auf dem Landwehrkanal, etwa drei Gehminuten von „Rau und Herzlich” entfernt, tummeln sich just zwei Tage vor der offiziellen Eröffnung rund 3.000 Kulturschaffende auf 400 Booten. Nachricht: Wir sitzen alle im gleichen Boot. Von Abstandsregeln und Mundschutz fehlt jede Spur, für den Berlin-typisch politischen Rahmen gibt es Plakate, die am ersten Tag der Lockerungen des Versammlungsverbots auf Ungerechtigkeiten hinweisen. Gerade die „I can’t Breathe”-Kandidaten im Bikini mit Dosenbier im Plastikboot sind an Geschmacklosigkeit kaum zu übertreffen, und wenn der Senat vorher noch nicht verstanden hat, dass es zur Skepsis im Blick auf die kulturfördernden Einrichtungen jeden Grund gibt – voilà.
Zumindest fallen Aktionen wie diese den Bartendern in den Rücken. Bartender, die sich seit Tagen und Wochen von Discos und Kneipen abzugrenzen versuchen, nun aber eben offiziell „im selben Boot” sitzen. Susanne Baró Fernández, Besitzerin des Friedrichshainer Timber Doodle, hatte sich in den letzten Tagen und Wochen für ein differenziertes Bild der High-End Barszene eingesetzt. Und auch wenn die Bars inzwischen geöffnet haben, war und ist die Zeit für Susanne noch immer „ein Gefühlschaos und mittlerer Nervenkrieg. Jeder Tag ist neu, kaum etwas ist planbar. Was heute gilt, kann morgen schon wieder völlig überholt sein. Allerdings hätte ich auch kaum in der Haut der verantwortlichen Politiker stecken wollen. Hinterher ist man immer schlauer, und in ein oder zwei Jahren werden wir vielleicht wissen, ob diese Entscheidungen richtig waren oder es bessere gegeben hätte.” Noch immer scheinen die Gastronomen tagtäglich Geschichte zu schreiben. Wie auch Pflanz glaubt sie nicht an eine Rückkehr zur Normalität vor der Verfügbarkeit eines Impfstoffs.
Gibt es in der Einschätzung darüber, was kommen wird, Unterschiede zwischen den durch Inhaber betriebenen Gastronomien und Hotelbars? Zum Teil. Konrad Friedemann ist Bar Manager in der Stue Bar des SO/Berlin und somit zuständig vom ersten beiläufigen Kaffeegeschäft am Morgen über den After Work-Apéro bis zur Zahnbürste. Gibt ihm die Systemgastronomie Sicherheit und sorgt für einen ruhigen Schlaf bei sicherer Bezahlung? „Bezogen auf die aktuelle Situation, hilft diese breite Aufstellung ein wenig im Unterschied zur reinen Cocktailbar, da man auch mit Speisen oder dem nachmittäglichen Kaffee- und Kuchengeschäft Umsatz machen kann”, so Friedemann. Außerdem gibt es in der Regel mehr Platz für Sicherheitsabstand. Andererseits bleibt ihm das Hotelgastpublikum aus; und auf treue Kiezkundschaft wie bei Pflanz setzt er weniger.
Das Bündnis der Bars
Anders als Fernández hatte er nicht die Möglichkeit, Drinks zu liefern, konnte nicht, wie Rau ein Fenster zum Takeaway öffnen und bekam von keinen Stammkunden künftige Drinks bezahlt. Dennoch ging alles weiter, wenn auch etwas anders: preisbewusster. Friedemanns Eindruck ist, dass der Gast weniger experimentierfreudig konsumiert und den Fokus auf das Vertraute lenkt: also eher Aperol Spritz als artenesaler Mezcalnegroni und eher Pizza Margarita als ein 15-Gänge authentisch peruanisches Degustationsmenü. Ähnlich wie Weber, fühlt er eine Stagnation der innovativen Gastronomie, aus Mangel an Mut zum Risiko; und er versteht das. „Die Branche und speziell die Bars haben sicherlich durch den aus meiner Sicht völlig berechtigten Lockdown länger gelitten und leiden immer noch, aber der Ruf von selbstständigen Unternehmern nach umfassender staatlicher Hilfe sollte auch nicht das einzige Mittel der Wahl sein. Eine Lehre könnte sein, Preise in Zukunft ehrlicher zu kalkulieren und damit auch für schlechte Zeiten Rücklagen zu schaffen”, so Friedemann, der findet, dass es auch an einem „Mangel an Organisation, an Interessenvertretungen und einer guten Lobby sowohl für die Arbeitgeberseite als auch die der Angestellten” liege, die Aufmerksamkeit und das Verständnis der Politik auf sich zu lenken.
Überhaupt scheinen gerade Probleme, die es bereits vor der Krise gegeben hatte, durch Covid-19 nochmals Rückenwind bekommen zu haben. „Gastronomen genießen immer schon ein sehr schlechtes Image,” so Fernández. „Die Leute denken an Steuerbetrüger über Gewohnheitstrinker, und auch das Stichwort Drogenmissbrauch und Rotlicht fällt immer wieder. Selbst Banken mochten uns noch nie. Wir beschäftigen zwar 2,4 Millionen Menschen und erwirtschaften 90 Milliarden, haben aber eine der schwächsten Gewerkschaften und keine große Lobby. Da wird man schnell übersehen, und daran müssen wir dringend arbeiten. Unsere Nachwuchsprobleme kommen ja nicht von ungefähr.” Die waren nämlich schon vor Corona ein massives Problem der Berliner Barbesitzer. Leider hat das Jahr 2020 sich nicht gerade als Werbejahr für den Beruf erwiesen. Aber für die Lehre vom Zusammenhalt. „Wie wäre es mit einer Image-Kampagne,” fragt Fernández. Wir haben es vernommen.
Adressen
Hildegard Bar
Marburger Str. 3
10789 Berlin
Rau & Herzlich
Glogauer Str. 9
10999 Berlin
Victoria Bar
Potsdamer Str. 102
10785 Berlin
Timber Doodle
Wühlischstr. 37
10245 Berlin
S/O Berlin
Das Stue
Drakestr. 1
10787 Berlin