Keep calm, it's Gin o'clock!
London Dry Gin
Für die Engländer ist Gin schlicht ein Nationalgetränk. Vor allem in London entwickelte er sich zum charaktervollen London Dry Gin. Und auch wenn er heute einer schier unüberschaubaren Zahl an neuen Marken und Stilen gegenübersteht, gilt der Klassiker doch schlicht als Referenz. Zeit für eine Rückbesinnung.
Dieser Artikel erschien zuerst in: DRINKS 02/2020
VON PATRICK TILKE
Wer heute nach gutem Gin sucht, sieht sich mit einer ähnlich breiten Auswahl wie beim Wein konfrontiert. Vor allem haben dafür die so genannten New Western Gins aufgrund einer häufig ungewöhnlichen Aromatik gesorgt. Ihnen gegenüber stehen die so genannten London Dry Gins. Ganz klassisch überzeugen diese zumeist geradlinig wie schnörkellos durch ein vorherrschendes Wacholderprofil und Botanicals wie Zitronenschalen, Koriandersamen, Iris- und Angelikawurzel, Cassia, Zimt und mehr – eine Mischung, welche wie bei einem zeitlosen Parfüm bestens funktioniert. Mit ihrem eindeutigen Aromenprofil sowie nur gering bis gar nicht gesüßt eignen sie sich nicht nur für den Purgenuss, sondern auch besonders gut für den Mix in Longdrinks und klassischen Drinks.
Die Geschichte des London Dry Gin ist dabei eng mit den Niederlanden verbandelt. So entdecken die im Spanisch-Niederländischen Krieg (1568-1648) zur Unterstützung entsandten englischen Soldaten hier den beliebten „Genever“ (auch „Jenever“, abgeleitet von niederländisch „jeneverbes“ bzw. französisch „genévrier“/„genièvre“, zu Deutsch Wacholder) auf Basis von destilliertem Malzwein und Wacholder. Von der Neuentdeckung angetan, portierten sie ihn in ihre Heimat. Als 1689 der Niederländer Wilhelm III. von Oranien-Nassau den englischen Thron bestieg, bevorzugte auch er den Genever am Hof vor Weinbrand, Whisky und Rum. Einen weiteren Schub erhielt die neue Spirituose in England u. a. durch den „Distilling Act“ von 1690, welcher das Brennen von Alkohol uneingeschränkt erlaubte und dies nur niedrig besteuerte.
Gin Craze, Shops und Acts
Schnell erlangte der neue, namentlich erstmals im Jahr 1714 verkürzt zum „Gin“ erwähnte Wacholderbrand große Popularität in England. Vor allem in London wurde er produziert, nicht nur von den wenigen, professionellen Brennereien und Brennern mit Kenntnis um eine sachgerechte Destillation, sondern auch von vielen privaten Haushalten, die ihn in den Hinterhöfen produzierten. So zeugte dieser Gin nicht unbedingt von guter Qualität, wurde er doch häufig mit fragwürdigen Zutaten versehen, um den schlechten Alkohol zu kaschieren – darunter Schwefelsäure, Terpentinöl, Weinalkohol und Stangenzucker. Dennoch ging er vor allem in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Tausenden „Gin Shops“ (oder „Dram Shops“) vor allem in den ärmlichen Vierteln Londons über die Tresen und sorgte für massenhaften Konsum und billigen Rausch.
Bekannt wurde diese Zeit der wachsenden Popularität von Genever und Gin wie auch einer neuen, ungebändigten Trunkenheit unter dem Begriff „Gin Craze“, „Gin-Epidemie“ oder auch „Gin-Krise“. So wurde Gin massenweise und illegal auf den Straßen Londons verkauft und konsumiert. Traurige Berühmtheit erlangte zum Beispiel Judith Dufour im Jahr 1734, welche ihre zweijährige Tochter tötete, um deren Kleidung zu verkaufen und hierfür Gin zu erwerben – wofür sie schließlich gehängt wurde. Dokumentiert wurde der gewachsene Wahnsinn um den Gin eindrücklich in dem Kupferstich „Gin Lane“ des sozialkritischen Malers und Grafikers William Hogarth, welcher im Jahr 1751 erstmals in der Londoner „Evening Post“ veröffentlicht wurde.
Erst eine ganze Reihe so genannter „Gin Acts“ im Rahmen der englischen Gesetzgebung versuchten zwischen 1729 und 1751 für eine Ordnung in diesem Chaos des unkontrollierten Konsums zu sorgen. Unter anderen wurden Lizenzgebühren und Steuern auf den Verkauf erhoben, das Verkaufsrecht eingeschränkt, Mindestverkaufsmengen festgelegt, Informanten illegaler Produzenten und Verkaufsstellen belohnt und vieles mehr. All diese Versuche, über den Konsum Kontrolle zu erlangen, führten jedoch zunächst nur zu einer Verstärkung der illegalen Herstellung und des Verkaufs. Erst nach vielen Jahren und viele Gin Acts später wurde der Konsum gebändigt. Auch der Ausfall der englischen Ernte zwischen 1757 und 1760 sorgte dafür, denn hernach wurde Gin ein teures Gut.
London erwächst zur Gin City
Bei all diesem Wahnsinn von fragwürdiger Herstellung und ungebändigter Trinkerei darf man jedoch nicht vergessen, dass der „Gin Craze“ nur einen Teil der Bevölkerung Londons betraf. So zeigt zum Beispiel der zweite Kupferstich William Hogarths parallel zur „Gin Lane“ einen eher gemäßigten Bierkonsum auf der „Beer Street“ durch glücklich und gesund wirkende Einwohner in einer bürgerlichen Umgebung. Zudem gab es natürlich auch Brennereien und Destillateure, die dank gutem Sachverstand einen Genever respektive Gin von guter Qualität produzierten. Vor allem in London entwickelte sich eine Expertise um den Gin, unter anderem wegen des Flusses Themse, über den exotische Gewürze und Früchte aus den Kolonien herangeschifft und im Gin verarbeitet werden konnten.
So kam um 1740 die Familie Booth nach London, um ihre Brennerei in Clerkenwell für ihren Booth Gin zu gründen. Im gleichen Jahr etablierte Joseph Bishop seine The Finsbury Distillery Co. Ltd. für seinen Finsbury Gin. Rund 100 Jahre stand die Brennerei in der Ropemaker Street/Ecke Finsbury Street in Finsbury, bevor sie in die Moreland Street umzog. 1761 begann Thomas Dakin im Alter von 25 Jahren mit der Destillation seines Greenall´s Gins, welcher bis heute bei G&J Distillers bei Manchester hergestellt wird. 1769 gründete der Schotte Alexander Gordon seine Brennerei in Southwark für seinen Gordon´s Gin, der seit 1800 an die Royal Navy geliefert wurde und 1988 zum Hoflieferanten der Queen erwuchs. 1786 wechselte sie nach Clerkenwell. Zudem begründete im Jahr 1770 der „Sheriff“ und „Lord Mayor of London“, Sir Robert Burnett, seinen Burnett´s White Satin.
1830 gründete der Pfarrerssohn Charles Tanqueray eine Brennerei in Bloomsbury für seinen Tanqueray Gin. 1941 wurde die Brennerei während der deutschen Luftangriffe („The Blitz“) zerstört, nur ein Brennkessel blieb unversehrt. Heute wird er – wie auch Gordon´s – in der Cameronbridge Distillery in Schottland produziert. Im Jahr 1845 folgte Boodles Gin, der bei G&J Distillers produziert wird und an den gleichnamigen, berühmten Londoner Gentleman´s Club erinnert. 1862 erwarb James Burrough die 1820 gegründete Chelsea Distillery auf der Cale Street und produzierte ab 1863 seinen Beefeater Gin. Aufgrund von Platzmangel zog die Brennerei 1908 nach Lambeth und 1958 nach Kennington. Der Name Beefeater erinnert an die Wächter („Yeomen Warders“) des Tower of London. 1898 verschmolz schließlich Tanqueray mit Gordon’s zur Tanqueray Gordon & Co.
Old Tom, London Dry und Mixed Drinks
Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wurde der Gin vor allem als „Old Tom Gin“ bekannt. Dieser wurde durch das Aufkommen von Zucker aus den britischen Kolonien zumeist gesüßt, um den mäßig produzierten Gin zu übertünchen oder dem süßen Gaumen zu schmeicheln. Mit der Entwicklung der kontinuierlichen Destillation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbesserte sich jedoch die Reinheit des Alkohols und er wurde höherprozentiger. Dies führte zu einer besseren Aromatik, aber auch dazu, dass die Süßung verringert werden konnte oder sich erübrigte. Derart entwickelte sich nebst dem Old Tom Gin der parallel produzierte „Dry Gin“. Um ihn abzugrenzen, kam häufig der Zusatz „unsweetend“ („ungesüßt“) hinzu sowie der Name „London“ als Herkunftsangabe – der „Dry Gin“ respektive „London Dry Gin“ war geboren.
Zeitgleich entwickelten sich ab den 1820er Jahren in England die „Gin Palaces“ als Nachfolger der einstigen Gin Shops – eine Mischung aus Shop und Bar, großzügig eingerichtet mit kunstvoll gestaltetem Holz, schönem Glas und Gasbeleuchtung, welche später zum Vorbild der viktorianischen Pubs erwuchsen. Spätestens hier wurde aus ungebändigter Trunkenheit eine Art gesellschaftlicher Anlass. Zudem entwickelte sich hier wie später in den neuen Bars, ausgehend von den USA, auch die Kunst um gute Drinks und einen gepflegten Rausch.
Schwere Zeiten, neue Stile
Im 20. Jahrhundert sorgten der Erste und Zweite Weltkrieg für ein Versiegen des Gins, in der Zwischenzeit von einem Hoch in den 1920er Jahren und der Prohibition geprägt. In den 1950er Jahren nahm der Gin u. a. mit dem Martini Cocktail wieder an Fahrt auf, wofür auch Ian Flemings James Bond gesorgt haben dürfte. Zudem wurde 1959 Bombay Dry – der Vorläufer von Bombay Sapphire – veröffentlicht, dessen Rezeptur auf 1761 und den Brenner Thomas Dakin zurückgeht. In den 1980er Jahren wurde der Gin zwischenzeitlich vom Wodka überrannt. Doch seither feiert er eine Renaissance, wofür z. B. Gordon´s, aber auch der 1987 eingeführte Bombay Sapphire sorgten. Im Jahr 2000 kam Tanqeray No. Ten auf den Markt, 2009 folgte Beefeater 24 – beide ergänzt um neue und moderne Botanicals. Spätestens seit 2010 stand dem London Dry Gin jedoch vor allem mit dem New Western Gin große Konkurrenz vor der Tür.
Dass sich trotz dessen auch neue Gins häufig an der Tradition des London Dry Gin orientieren, beweisen neuen Brennereien und Marken aus London. 2009 installierten Sam Galsworthy und Fairfax Hall die erste neue Gin Brennerei seit fast 200 Jahren und brennen seither in aufwändiger und traditioneller Methode ihren Sipsmith Gin. Ebenso öffnete Bombay Sapphire, auf der London Road außerhalb Londons gelegen, im Jahr 2014 die Brennerei erstmals für Besucher. Auch kehrte 2018 Hayman´s nach London zurück und eröffnete eine Brennerei in Balham. Das Familienunternehmen unter Vorsitz von Christopher Hayman geht zurück bis auf den Urgroßvater James Burrough, der einst Beefeater gründete. Zuletzt haben sich in den vergangenen Jahren viele neue „Micro Distilleries“ in London etabliert und die Stadt zu einer wieder aufblühenden, spirituellen Heimat des klassischen London Dry Gin gemacht.